Erik Bjerager von der dänischen Zeitung Kristeligt Dagblad ist Präsident des World Editors Forum (WEF), Marcel van Lingen vom Verband der niederländischen Presse ist Vizepräsident des WEF. Zeitungen können den Text unter Verweis auf WEF und WAN-IFRA anlässlich des 3. Mai frei veröffentlichen.
Pressefreiheit muss man lernen
Die billigsten Hotels, das leckerste Sushi, der umweltfreundlichste Urlaub und die beste Fluggesellschaft – wir wollen alles. Für unsere Reisen ins Ausland sammeln wir die attraktivsten Angebote. In der urgemütlichen Umgebung unserer eigenen vier Wände wählen wir an rundum geschützten PCs die Orte für unseren Familienurlaub oder Wochenendausflug.
Nicht in unserer Sammlung freudiger Urlaubsüberlegungen berücksichtigt ist etwas, das auch bei beruflich bedingten Reiseentscheidungen häufig unbeachtet bleibt: die jährlich erscheinende Rangliste, aus der hervorgeht, wie es um die Pressefreiheit in den einzelnen Ländern bestellt ist.
Nein, dieses Jahr geht es weder nach Finnland (das die Liste mit weitem Abstand anführt) noch nach Neuseeland (das den achtbaren elften Platz belegt), sondern ohne Bedenken an einen herrlichen Urlaubsort in Malaysia (Rang 141 von 196). Wir reisen auch sehr gern nach Vietnam (Platz 177) oder endlich einmal nach China (Platz 181), dessen Kultur ja anscheinend bei allen, die das Land besuchen, einen bleibenden Eindruck hinterlässt. Ach ja, und dann noch Nordkorea, Träger der roten Laterne auf Rang 196. Daran haben wir vielleicht sogar schon gedacht, aber leider lässt man dort keine Fremden ins Land.
In der Arbeitswelt der Mitglieder von WAN-IFRA und des World Editors Forum (WEF) stellt diese Rangliste der Pressefreiheit einen Eckpfeiler für Freiheit und Demokratie dar. Vor allem aber dient sie als Maßstab dafür, in welchen Ländern sich Journalisten frei von Beeinflussung und nachteiligen Konsequenzen betätigen können. Der gut situierte durchschnittliche Weltbürger jedoch, also ein Bürger mit dem Geld für exotische Ferien, hat für diese Liste kaum mehr übrig als ein Schulterzucken. Malaysia hat schließlich außergewöhnlich attraktive Ferienorte zu bieten, ganz zu schweigen vom erstklassigen Service – wen kümmert da schon das bisschen Pressefreiheit?
Dennoch muss diese Trauerliste jedes Jahr von Neuem geschrieben werden. Es ist so, als wollten wir uns ein Bild davon machen, welche Länder auf den oberen Plätzen rangieren und somit die angenehmsten Ziele darstellen – weil wir die Gewissheit haben wollen, das alles, was wir in den von uns ausgesuchten Ländern lesen, hören und sehen, zutreffend und stichhaltig ist, nicht bewusst in die Irre führt und von wirtschaftlichen Interessen, Repression und Beschränkungen jeder Art frei ist. Denn dann wissen wir auch, dass diejenigen, die Nachrichten recherchiert und veröffentlicht haben, ebenfalls integer sind, keinen psychischen und physischen Drohungen ausgesetzt waren und, soweit möglich, nur die nackten Tatsachen präsentiert haben.
Zudem können wir es als sicher voraussetzen, dass die politisch Verantwortlichen der Länder am Ende der Rangliste viele Fragen zu beantworten haben. Wie tragisch ist es eigentlich, wenn ein internationales Komitee nötig ist, um zu überwachen, wie viele Journalisten eingesperrt werden oder spurlos verschwinden? Und das nur, weil sie geschrieben, gesagt oder gefilmt haben, was gerade vor sich ging? Es sind heute keineswegs nur Diktaturen, die der Pressefreiheit unfassbaren Schaden zufügen. Auch das organisierte Verbrechen in aller Welt lässt nichts unversucht und attackiert die unerwünschte Aufmerksamkeit der Presse mit roher Gewalt.
Das Leitthema des diesjährigen Internationalen Tages der Pressefreiheit – „Schweigen ist der Tod der Demokratie. Eine freie Presse erhebt die Stimme.“ – ist von klarer Einfachheit und außerordentlicher Komplexität zugleich. Wer die Stimme erheben will, muss erst einmal gut zuhören lernen und vor allem auch viel üben. Das WEF hat die Absicht, über sein uneingeschränktes allgemeines Engagement für die Pressefreiheit hinaus alles in seiner Macht stehende zu tun, um die Pressefreiheit durch Nutzung des verfügbaren Wissens und Inanspruchnahme jeder erhältlichen Hilfe zu stützen und zu fördern.
Begegnen wir jenen mit Argwohn, die versprechen, dass die Pressefreiheit in den ganz unten auf der Liste platzierten Ländern „schon bald“ Wirklichkeit werde. Misstrauen wir den Diktatoren, die unter internationalem Druck behaupten, sie ließen keine Möglichkeit zur Gewährleistung der Pressefreiheit ungenutzt.
Aber begegnen wir auch jenen Journalisten mit Argwohn, die behaupten, sie könnten gleichsam über Nacht den Übergang von der Pressezensur zur Pressefreiheit bewerkstelligen. Denn Pressefreiheit muss man lernen.
Man muss lernen, die Wahrheit zu sagen; man muss Fakten niederschreiben lernen, die sich von früheren Annahmen unterscheiden; man muss Meinungen aufschreiben lernen, die auch in der Welt des Journalisten neu sind; und man muss lernen, keine Angst davor zu haben, seinen geistigen Widersachern ein Podium zu geben. Nur wer das gelernt hat, darf sich Vertreter der freien Presse nennen.
Credit: World Editors Forum und WAN-IFRA